Fachkräftegewinnung

Recruiting in der Mangelwirtschaft

6. April 2022, 8:22 Uhr | Martin Fryba
In Deutschland können aktuell 96.000 IT-Jobs nicht besetzt werden, klagt der Bitkom
© AdobeStock/Song About Summer

Manche Konzerne sieben per Algorithmus Bewerber aus, die andere Firmen gerne hätten, aber eher abschrecken, wenn man auf deren Stellenausschreibung schaut. Verrückte Welt. Besser wäre es, alte Zöpfe abzuschneiden und mit einer durchdachten Personalstrategie auf sich aufmerksam zu machen.

Jeweils eine Kraft für SEO, Java-Programmierung und Produktentwicklung sucht das junge Kölner Unternehmen Access 2 Justice. Nie gehört? Klar, die Firma ist ja auch erst fünf Jahre alt und beschäftigt neun Mitarbeiter. Firmengründer Pascale Heinrichs befindet sich in guter mittelständischer Gesellschaft von etwa drei Millionen Unternehmen, die viel älter als sein Start-up sind, viel mehr Mitarbeiter und Kunden zählen, aber auch nicht bekannter sind als seine 2016 gegründete „Legal Tech Company“. Für Headhunter ist kein Geld da, in großen Jobbörsen würde Access 2 Justice unter Hunderttausenden Firmen untergehen, es fehlen Zeit und eine dezidierte Kraft für Öffentlichkeitsarbeit, die Instagram und Facebook regelmäßig befeuern könnte.

Dabei hat meinbafög.de, neben daselterngeld.de, das zweite Portal der Kölner für einen einfachen digitalen Lotsendienst durch die bundesdeutsche Bürokratie, mehr als tausend Follower auf seinen Social Media-Kanälen. Wichtigster Treiber aber ist die Bewertung bei Google: Beachtliche 380 Rezensionen kann man auf Google Maps über meinbafög in Köln lesen, die Gesamtnote 4,6 ist hervorragend. Kontaktiert ein Kunde den Support, wird er gebeten, hier eine Rezension zu schreiben. Gelingt das, erhält der Mitarbeiter einen kleinen
Bonus.

Heinrichs und sein Gründerteam haben eine große Vision: Alle behördlichen Anträge, die finanzielle Ergebnisse bringen, wollen die Kölner digitalisieren und als kostenpflichtigen Service anbieten. Dafür braucht man freilich viel Personal. Doch wo als Arbeitgeber hervorstechen angesichts eines jetzt schon dramatischen Fachkräftemangels, der in den kommenden Jahren noch zunehmen wird, wenn die Babyboomer-Generation der in den 50er- und 60er-Jahren Geborenen in Rente geht?

Themen-Jobbörse: familienfreundlich
Eine Möglichkeit: Präsent sein auf themenorientierten Jobbörsen. Beispielsweise auf famlienfreundliche-arbeitgeber.de. Allein die dort erwähnten Firmen mit ihren Stellenangeboten zeigen Müttern, Vätern oder pflegenden Angehörigen, dass sie hier an der richtigen Türe anklopfen. Top-Vereinbarkeitsangebote bei Access 2 Justice: Homeoffice bis zu 100 Prozent, Voll- und Teilzeit, Aufstiegsmöglichkeiten. Sandra Berger hat das Portal geründet, um aus der Not eine unternehmerische Tugend zu machen. „München war für uns als ‚Normalofamilie‘ die Vereinbarkeitshölle. Ein zweites Kind wäre für uns dort nicht in Frage gekommen. Zwei Vollzeitjobs haben gerade so eine kleine Gartenwohnung im Vorort bezahlt. Jeder Kindergarten im Umkreis von 30 Kilometern hat uns wegen Überfüllung oder Personalmangel abgelehnt“. Jetzt wohnen die Bergers auf dem Land und die Jobs kommen dank Remote-Work zu ihnen nach Niederbayern.

Wir reden hier freilich nicht über Tätigkeiten, die eine Präsenz im Büro, beim Kunden, Patienten, Pflegebedürftigen oder auf der Straße zwingend erfordern. Auch wenn hier kein Homeoffice möglich ist: Eine explizite Vereinbarkeit von Beruf und Familie würde Arbeitgeber aus jedem Sektor attraktiver machen.

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Bitte keine Frischfleisch-Zoten
Berater für Personalmarketing haben Hochkonjunktur. Das liegt nicht nur an spärlich bis gar nicht eintröpfelnden Bewerbungen angesichts der riesigen Auswahl an offenen Stellen. Es gibt nämlich Firmen, die trotz Bewerbermarkt keine Probleme bei der Besetzung offener Stellen haben. Aber die meisten Firmen klagen, ohne einmal einen Experten auf ihre Stellenausschreibungen blicken zu lassen. Würden sie es tun, sie würden ein Heureka erleben: Anforderungsprofil so lang wie ein Roman (Telekom Nürnberg), in Summe 90 Jahre geforderte Erfahrungen in verschiedenen Aufgaben (IBM), Männer auf der von Frauen gestützten Karriereleiter (Sparkasse Birkenfeld) oder das gerne verwendete Frischfleisch-Motiv einer halbnackten Frau, mit dem so mancher Metzger mehr über sich verrät als von der oder dem Fleischfachverkäufer/-in in spe. Schlechte Stellenanzeigen sind beim Unternehmermagazin Impulse immer noch ein  Thema im längst angebrochenen Zeitalter von Employer Branding und dem Trend zur One-Click-Bewerbung.

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„Scannen, Sprechen, Job. Keine Unterlagen nötig“, die One-Click-Bewerbung per Voicenachricht bei einer Bäckerei in Konstanz
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One-Klick zum Job
Je weniger Pflichtfelder, desto höher die Chance für eine Firma, wenigstens den Namen und die Kontaktdaten eines Interessenten zu bekommen, meint Personal-Beraterin Madeleine Kern. Nach einer ersten zeitnahen Rückmeldung könne das Unternehmen den Kandidaten um einen Lebenslauf bitten. Was ihn immer wieder erstaunt: „wie sehr HR-Abteilungen an Zwangsregistrierung und aufwändiges Bewerbungsformular fast schon fanatisch und vehement festhalten“, pflichtet Dirk Hömke, Leiter Personalgewinnung bei Secareer, Kern bei. Viele Daten brauchen freilich einige Konzerne, die die erste Sichtung der Bewerber einem Algorithmus überlassen.

Roboter Recruiting siebt dann schon mal aus mit der Folge, dass die Individualität eines Jobinteressenten auf der Strecke bleibt und Quereinsteiger keine Chance haben. Die Software folgt einem Konformitätskurs. Man will neue Mitarbeiter an Bord holen, die sich so geben, wie die, die schon da sind. Individualität und einmalige Persönlichkeit, die viele Firmen als Bereicherung ihrer Unternehmenskultur ansehen, gehen im Roboter Recruiting unter.


  1. Recruiting in der Mangelwirtschaft
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